in fußballland
: Die Partei hat immer Recht

CHRISTOPH BIERMANN über fußballerische Kontingenz, grün-weiße Religion und die Nordkoreanisierung des deutschen Fernsehens

Christoph Biermann, 43, liebt Fußball und schreibt darüber

Die Partei, die Partei, die hat immer Recht! Und seit es keine Partei mehr gibt, die immer Recht hat, hat es nun der FC Schalke 04. Man konnte das am letzten Samstag gut erkennen, als sich der ehemalige Westdeutsche Rundfunk ins nordkoreanische Staatsfernsehen verwandelte. Ununterbrochene zehn Stunden seines Programms stellte der Sender den Festivitäten anlässlich der Jubelfeiern zum 100. Geburtstag des FC Schalke 04 zur Verfügung. Gepriesen wurde die Weisheit des großen Führers Kim Il Assauer und unaufhörlich allen Helden der königsblauen Revolution gehuldigt. Zu den eindrucksvoll inszenierten Massenfeierlichkeiten waren sechzigtausend in die Halle des Volkes nach Pyönkirchen gekommen und sangen unter Anleitung von Gotthilf „Lee“ Fischer gemeinsame Lieder zum Lob der Partei. Nach Ende der Festlichkeiten, für deren Abschluss chinesische Freunde ein Feuerwerk zu Verfügung gestellt hatten, wurde noch einmal an die Meilensteine der Bewegung erinnert und große Spiele wurden wiederholt.

In Dortmund kam es zu spontanen Streiks gegen die Fernsehgebühren und Protestzapping auf Kanäle, die, statt Schalke zu zeigen, lieber live den Landeanflug einer Turbopropmaschine auf den Flughafen Bremen übertrugen (ntv24) oder das Verlassen von Menschen eines Flugzeugs der Ostfriesischen Lufttransporte in ihr Programm hoben (ARD, ZDF). Auf dem Rollfeld kam es zu spontanen Massenaufläufen von Gläubigen, weil die Priester der „Church of Werder Bremen“ als deutscher Meister aus dem Reich der Finsternis des Münchner Olympiastadions zurückkehrten. Auf Straßenkreuzungen der Hansestadt wurden grün-weiße „Gebetsteppiche“ ausgelegt, war am Tag danach in der Zeitung zu lesen.

Wer noch irgendwelche restlichen Zweifel daran hatte, dass Fußball das Vakuum gefüllt hat, das Religion und Politik hinterlassen haben, brauchte sich am drittletzten Spieltag der Saison 2003/2004 nur ein wenig durch die Fernsehkanäle zu schalten. Wäre das „Wort zum Sonntag“ nicht vorproduziert gewesen, hätte der Seelsorger seine Botschaft wahrscheinlich im Fan-Schal des neuen Titelträgers vorgetragen. Politiker tun das bekanntlich schon lange.

Fußball hat aber nicht nur Religion und Politik ersetzt, sondern ist „eine Art von Kunst“ ,und das nicht etwa im metaphorischen Sinne. So jedenfalls argumentiert Wolfgang Welsch in der Zeitschrift „Kunstforum“ und führt das raumgreifender und raffinierter aus, als es hier referiert werden kann. Dass er nicht allein über Fußball spricht, sondern insgesamt über Sport, tut nichts zur Sache. Denn sein für mich interessantester Gedanke der Beschreibung von Sport als eine „Feier der Kontingenz“ führt auch hin zum Fußball.

Kontingenz ist Zufälligkeit und Unvorhergesehenheit (vulgo: man weiß vorher nicht, wie es ausgehen wird). Und der Autor schreibt: „Mir scheint Fußball deshalb so faszinierend zu sein, weil das Geschehen im höchsten Maße der Kontingenz ausgesetzt ist. Fußball inszeniert Kontingenz.“ Das stimmt, obwohl die Arbeit von Spielern und Trainern auch ein ständiger Kampf gegen das Unvorhergesehene einer verrutschten Flanke oder eines abgefälschten Torschusses ist. Sei es in Pyönkirchen oder Bremen. Doch die Faszination des Publikums für Kontingenz gilt nicht nur im einzelnen Spiel, sondern überraschen soll auch der Verlauf von Meisterschaften oder großen Turnieren.

Deshalb haben zuletzt auch fast alle Fußballfreunde in ihrem Herzen fürs grün-weiße Kirchlein eine Kerze angezündet, weil so der gefühlt 138. Titelgewinn des FC Bayern verhindert wurde. Und vielleicht erklärt sich auf diese Weise auch, warum der königsblaue Poststalinismus so viele Menschen in den Bann schlägt. Denn so gleichgeschaltet das Fernsehen auch berichtete, geht bei Schalke 04 doch die Kontingenz in reinster Form in ihr zweites Jahrhundert. Noch ist jedenfalls nicht ausrechenbar, was einen dort erwartet.

Von Christoph Biermann ist ein Buch mit seinen taz-Kolumnen erschienen: „Meine Tage als Spitzenreiter. Letzte Wahrheiten über Fußball“, Verlag Die Werkstatt, 9,90 Euro